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Irgendwann antworten die Kinder nur noch auf Englisch

Mitreisende Ehepartner

von Cornelia Schaible

mit-ausgewandert Für die Firma ein paar Jahre ins Ausland, und die Familie kommt mit? Klingt aufregend. Zumal, wenn es in die USA geht. Doch ein Spaziergang ist das nicht – vor allem für mitreisende Ehepartner wird aus Freude leicht Frust. Deutsche Frauen, deren Männer nach Detroit im US-Bundesstaat Michigan entsandt wurden, berichten über ihre Erfahrungen.

Der Alltag in einem fremden Land ist zunächst alles andere als alltäglich. Mitunter fühlt er sich sogar an wie Urlaub. Connie Bahr hat ihre erste Zeit in Michigan nach eigenem Bekunden sehr genossen: Die 39-Jährige, die mit ihrem Mann und den beiden Söhnen zuvor im Raum Stuttgart gelebt hatte, zog Mitte 2002 in die USA. „Ende Juni sind wir hergekommen“, erinnert sie sich, „und dann waren erst einmal zehn Wochen Sommerferien. Ich bin jeden Tag aufs Geratewohl losgefahren.“ Und als die Schule wieder los ging, kam erst recht keine Langeweile auf. So ein Neuanfang hat etwas Befreiendes: Ähnlich wie Connie Bahr empfinden viele Frauen, die ihren Ehemann bei einem Auslandseinsatz begleiten. Und das ist jetzt absichtlich nicht geschlechtsneutral formuliert. Zwar hört man neuerdings häufiger von Männern, deren Partnerin ins Ausland versetzt wird und die ihren Job aufgeben und mitkommen – tatsächlich ist das aber immer noch die Ausnahme: Einem Bericht von „The Wall Street Journal Online“ zufolge waren im Jahr 2000 rund 13 Prozent der entsandten Angestellten weiblich, und nur ein Zehntel von ihnen war verheiratet.

Der typische Angestellte auf Auslandseinsatz ist männlich, und er bringt seine Familie mit. Die muss im fremden Land erst einmal sehen, wie sie ohne den Vater auskommt – denn der arbeitet, und zwar in der Regel bis spät in die Nacht hinein. Das ist schließlich der Zweck der Übung. Der Auslandsaufenthalt mag eine reizvolle persönliche Herausforderung sein; das eigentliche Ziel ist aber meistens, ein Stück auf der Karriereleiter voranzukommen.

„Im ersten Jahr war der Papa eigentlich nicht präsent“, sagt Isabell Scherg, 39, deren Mann bei einem großen Autokonzern arbeitet. „Dann wurde es besser.“ Scherg hat zwei Söhne im Alter von sieben und zehn Jahren. Andere haben dieselbe Erfahrung gemacht: Es sind fast ausschließlich die Mütter, die den Kindern helfen, in der neuen schulischen Umgebung klar zu kommen. „Die Männer gehen einfach in ein anderes Büro“, hört man immer wieder. Und die Frauen können sehen, wie sie den Rest bewältigen – sie managen schließlich den Alltag.

Am Anfang ist das auch gar nicht schlimm. Alles ist ein bisschen wie im Film, und dazu könnte Supertramp laufen: „Breakfast in America.“ Wer davon je geträumt hat, dürfte sich zunächst im siebten Himmel wähnen. Und selbst wenn amerikanisches Frühstück den Reiz des Neuen verloren hat, das Hochgefühl hält noch eine Weile an. Denn es gibt so viel zu tun: Die Kisten müssen ausgepackt und das Haus muss wohnlich hergerichtet werden, meist sind noch Haushaltsgeräte und Möbel anzuschaffen, und das alles wird mit viel Enthusiasmus betrieben. Jede Einkaufsfahrt in den Supermarkt ist eine kleine Expedition. Für Dr. Simone Silvestri ist das die „Honeymoon-Phase“ in der Begegnung mit der neuen kulturellen Umgebung. Silvestri, die im Raum Detroit als interkultureller Coach arbeitet, schätzt die Dauer dieser ersten Phase auf ungefähr drei bis sechs Monate.

Aus ihrer beruflichen Erfahrung weiß Silvestri aber: Oft ist ganz plötzlich die Luft raus. Irgendwann hat der Alltagstrott die Frauen wieder eingeholt, und alles immer „terrific“ und „awesome“ zu finden, wie in Amerika üblich, strengt auf Dauer an. Zumal sich Enttäuschungen nicht vermeiden lassen. „Dann kommt der Durchhänger“, sagt Simone Silvestri. Und meist passiert das ausgerechnet in dem Moment, in dem das Leben nach vielen Veränderungen wieder in geordneten Bahnen zu verlaufen scheint.

Betroffen sind vor allem Frauen, die vor der Abreise in Deutschland einen Job hatten und in vielfältige Aktivitäten eingebunden waren. Silvestri: „Die sind nun den ganzen Tag in einem völlig unstrukturierten Umfeld und warten darauf, dass was passiert.“ Der Ehepartner ist meist auch keine große Stütze, denn er hat seine eigenen Sorgen. „Der Mann ist völlig eingebunden. Der ist fix und fertig, wenn er mal Freizeit hat.“ Und auf einmal passen elementare Bedürfnisse nicht mehr zusammen: „Der eine will seine Ruhe – und der andere will reden.“

Isabell Scherg war sich der Problematik bewusst: „Wenn ich das Jammern angefangen hätte, so hätte ihn das unter Druck gesetzt.“ Wenn die Frauen optimistisch seien, strahle das aber auch auf die Männer aus, hat Scherg erkannt. Das kann jedenfalls nicht schaden: Für die Firma, die einen Mitarbeiter ins Ausland schickt, steht einiges auf dem Spiel. Angesichts beachtlicher Entsendungskosten, ungefähr in Höhe des Zwei- bis Dreifachen des Gehaltes für eine vergleichbare Position im Inland, ist die Zufriedenheit des mitreisenden Ehepartners schon ein Thema, meint Silvestri. Muss der Aufenthalt vorzeitig abgebrochen werden, weil der Entsandte oder seine Familie mit der Situation im Gastland nicht zurechtkommt, kostet das die Firma in der Regel viel Geld.

Bei einem so hohen finanziellen Risiko scheint eine gründliche Vorbereitung auf den Auslandseinsatz unerlässlich. Zumindest international operierende Konzerne, so sollte man annehmen, beziehen bei der Schulung ihrer Mitarbeiter deren ganze Familie mit ein. Das sei aber keineswegs selbstverständlich, sagt Simone Silvestri. Häufig organisiert zwar eine Relocationfirma den Umzug und hilft bei der Auswahl geeigneter Schulen sowie bei der Häusersuche, aber das war’s dann auch schon – interkulturelles Training ist selten im Paket mit dabei. Und bei kleineren Firmen, die nur über wenige Auslands-Niederlassungen verfügen, gibt’s oft nicht einmal das.

Manchmal bleibt für die Vorbereitung auch einfach keine Zeit. „Das Angebot kam aus heiterem Himmel“, erinnert sich Heidi Jückstock, 40. Ihr Mann wurde gefragt, ob er nach Amerika gehen wolle, und der Chef musste am nächsten Tag schon Bescheid wissen. „Er brauchte einfach schnell jemanden.“ Das war an einem Freitag, und am Montag darauf sei ihr Mann geflogen. „Und ich bin dann ein halbes Jahr später nachgekommen.“ So schnell das eben mit den Kindern ging – die Jückstocks haben zwei Söhne und eine Tochter im Alter zwischen neun und 16 Jahren.

Das ist nun schon mehr als drei Jahre her, und Heidi Jückstock, die in Erfurt aufgewachsen ist, hat sich am neuen Wohnort Bloomfield Hills gut eingelebt. Dass sie früher auch innerhalb Deutschlands oft umgezogen ist, war dabei hilfreich. „Man muss selbst auf andere zugehen“, ist die studierte Volkswirtin überzeugt. Zu ihren amerikanischen Nachbarn hat Jückstock schnell Kontakt bekommen: Sie hat Glück gehabt; in vielen US-Vorstädten geht es mit Sicherheit anonymer zu als in ihrer Nachbarschaft, wo sich die Leute gegenseitig zu Festen einladen – sie erzählt von einer Oktoberfest-Party, zu der sie eingeladen war, und bei der richtig deftig gekocht wurde.

Inzwischen kennt Heidi Jückstock auch viele Deutsche im Raum Detroit. Das macht alles leichter, findet sie: „In der Muttersprache kann man sich einfach besser ausdrücken“. Von den Erfahrungen anderer Expatriates zu profitieren, kann nie schaden – man muss nicht unbedingt in alle Fettnäpfchen treten, durch die andere schon marschiert sind. Mit einigen deutschen Freundinnen trifft sie sich regelmäßig; Connie Bahr und Isabell Scherg gehören zu dieser geselligen Gruppe.

Die Frauen frühstücken dann zusammen, plaudern und tauschen sich aus. Über den Umgang mit Kinderärzten etwa, die nach Ansicht der deutschen Mütter allzu schnell den Rezeptblock zücken und wenig Skrupel beim Verschreiben stärkster Medikamente gegen kleine Wehwehchen haben. Oder sie diskutieren die kleineren und größeren Konflikte, die sich beim Aufeinanderprallen deutscher und amerikanischer Gepflogenheiten ergeben können. Beispielsweise, dass sich Amerikaner schnell vor den Kopf gestoßen fühlen, wenn sie allzu direkt kritisiert werden. Auch nach über einem Jahr in den USA könne es noch Missverständnisse geben, sagt die 39-jährige Martina Bode, die ebenfalls zum Freundeskreis gehört. „Ich interpretiere manche Dinge immer noch falsch.“

Manchmal sind es auch nur Kleinigkeiten, wie die Sache mit der Kleiderordnung. Wer Amerikaner vorher nur als kurz behoste Touristen beim Sightseeing in deutschen Städten kannte, dürfte in den USA seine Überraschungen erleben: Da begibt man sich sommerlich hell angezogen auf eine Fünfziger-Feier, und die anderen Gäste erscheinen durchweg in edler Abendgarderobe, ganz in Schwarz. Oder der Anlass deutet auf ein langes Kleid mit Ausschnitt hin, und dann tragen die Amerikanerinnen alle zugeknöpfte Kostüme; nur die Besucherin aus Germany zeigt eindeutig zu viel Haut. Einmal gründlich over- oder underdressed gewesen zu sein, gehört zu den unvergesslichen Erlebnissen bei einem USA-Aufenthalt.

Als einzelner Vorfall mag das lustig klingen – Tatsache ist, dass Expatriates zunächst mit einem ganzen Bündel von Unwägbarkeiten im Alltag leben müssen. Das verunsichert. Dazu kommen zahllose neue Eindrücke, die auf sie einströmen. „Das ganze Leben ändert sich“, sagt Martina Bode, „und da sind so viele Namen, so viele Menschen, und du sollst dich umschauen, und das möglichst auch noch genießen, und dann lernst du diese ganzen Leute kennen, und einer ist begeisterter als der andere – das muss man erst einmal verdauen.“ Und zwischendurch soll man auch noch bügeln. „Die Tage sind sowas von ausgefüllt!“

Sich von der Hektik des amerikanischen Alltags anstecken zu lassen, ist oft nur schwer zu vermeiden. Das Leben muss völlig anders organisiert werden: Die Wege sind weiter, jede Besorgung nimmt mehr Zeit in Anspruch als gewohnt. „Das Einkaufen dauert hier viel länger“, sagt Connie Bahr. Früher nahm sie schnell das Rad – „mit zwei Tüten dran, und das war’s dann“. In Amerika müsse man mindestens zwei oder drei Supermärkte ansteuern, da sind drei Stunden schnell vorbei. „Man ist immer auf Achse“, bestätigt Isabell Scherg.

Das ist das Merkwürdige an Amerika: Vieles sieht zunächst aus, wie von zu Hause her gewohnt, höchstens ein bisschen größer – und ist dann doch ganz anders als in Deutschland. Auf Neuankömmlinge wirkt das irritierend. Dass andere ähnlich empfinden, ist zumindest tröstlich. Und eine gute Basis für neue Freundschaften. Denn die alten Freunde und Bekannten sind ganz weit weg. Was viel schlimmer ist, und das realisiert man meistens erst nach einiger Zeit: Die Verwandtschaft, die Familie, befindet sich nun auf einem anderen Kontinent. Man wird sie wahrscheinlich nur noch einmal im Jahr sehen, und dafür braucht es ein Flugticket. Sie sei ein Einzelkind, sagt Isabell Scherg, und ihre Eltern litten sehr darunter, dass sie nun so weit weg sei. „Das ist eigentlich der einzige Wermutstropfen an dieser Auslandsgeschichte.“

Sich ein Netzwerk aufzubauen, das ein Stück weit das gewohnte soziale Umfeld ersetzen kann, ist geradezu überlebensnotwendig. Heidi Jückstock hat sich etwa einem Buchclub angeschlossen – beim monatlichen Treffen wird ein literarisches Werk in deutscher Sprache diskutiert. Zahlreiche Newcomer-Clubs bieten im Raum Detroit außerdem die unterschiedlichsten Möglichkeiten, neue Leute kennenzulernen. Wer organisierte Geselligkeit grundsätzlich ablehnt, tut sich hier schwer. Isabell Scherg hat eine Bekannte, die sich ganz und gar nicht als Vereinsmensch versteht: „Sie zieht sich mehr und mehr zurück.“

Bisweilen hört man in so einem Fall, die Frau habe ihre Koffer gepackt und sei zurück nach Deutschland gegangen. Auch wenn es nur selten so weit kommt: „Nicht wenige der Entsandten scheitern“, sagt Simone Silvestri. Die Frau fühle sich irgendwann nur noch als Anhängsel, oder sie mache beruflich etwas weit unter ihrem Niveau. Beim Mann könne das auch Schuldgefühle hervorrufen: Er steigt auf, sie steigt ab. Das drückt auf die Stimmung. „Und dann wird aus jeder Mücke ein Elefant“, weiß Silvestri, nach dem Motto: „Weil ich unglücklich bin mit meinem Leben, lauere ich nur darauf, etwas zu finden, was hier schlechter ist als in Deutschland.“
Ohne fachliche Beratung gibt es kaum einen Ausweg aus diesem Teufelskreis. „Die Leute, die zu mir kommen, haben wirklich Probleme“, betont Silvestri. Die persönliche Krise könne durchaus auch eine Chance zur Selbstfindung sein: „Einige kommen daraus stärker und besser hervor.“ Es gebe aber auch einen „gewissen Prozentsatz, der sich gar nicht mehr fängt“. Unter dieser Belastung kann eine Ehe leicht zerbrechen. Tatsächlich ist das Auslandsabenteuer für Verheiratete alles andere als eine Paartherapie. „Die Scheidungsrate ist höher, als wenn sie zu Hause geblieben wären.“

Gelegentlich scheitert der internationale Umzug auch daran, dass die Sprösslinge im fremden Land nicht zurecht kommen. Silvestri zufolge betrifft das vor allem die Kinder im Teenageralter: Sie vermissen ihre Freunde und kommen sich häufig völlig deplatziert vor – im wörtlichen Sinne. In Deutschland können sich Jugendliche viel freier bewegen als in den USA, wo man nirgends zu Fuß hinkommt. Zwar dürfen 16-Jährige schon Auto fahren, mit Papa oder Mama als Beifahrer auch schon früher, aber das ist nicht der Traum aller deutschen Eltern. Und bis es soweit ist, gilt ohnehin: „Man muss sie überall hinkutschieren“, sagt Connie Bahr.

Auswanderer-Frauen sich Jüngere Kinder gewöhnen sich häufig sehr viel schneller an die neue Schule und an neue Freunde als die älteren Geschwister. Und Mütter, die sich – wegen der Sprache! – so große Sorgen um ihren Nachwuchs machten, müssen bald feststellen, dass die lieben Kleinen partout nur noch Englisch reden wollen. Ihre beiden Jüngsten hätten das schon nach eineinhalb Jahren beschlossen, erzählt Heidi Jückstock und lacht. „So schnell hätte ich nun nicht damit gerechnet!“ Isabell Scherg kennt das – auch ihre Söhne sprechen untereinander längst nicht mehr in ihrer Muttersprache. „Ich habe das akzeptiert“, sagt sie, „ich spreche trotzdem ganz konsequent Deutsch mit ihnen. Aber sie antworten eben nur auf Englisch.“

Vielleicht ist das die normale Reaktion auf den Schock, plötzlich in einer fremden Sprache unterrichtet zu werden, womöglich schon im Grundschulalter. Anpassung ist alles. Oft können die Eltern nur staunen, wie schnell es ihre Kinder in der neuen Schule schaffen – Kummer macht allenfalls die Rückkehr. „Das Problem ist nicht, dass die Kinder nicht mitkommen“, so Simone Silvestri. „Das eigentliche Problem ist, später den Anschluss wieder zu finden.“ Das amerikanische Schulsystem erzieht zu Selbstständigkeit und Selbstbewusstsein, und zwar in einem Maße, wie das im deutschen Regelschulsystem nicht immer erwünscht ist.
Aber nicht nur die Kinder riskieren, den Anschluss in Deutschland zu verpassen. Niemand kann einfach dort wieder anfangen, wo er einmal aufgehört hat. Die alten Nachbarn, die alten Freunde sind einem fremd geworden. Der Besuch zu Hause wird zu einer Art Zeitreise in die Vergangenheit. Heidi Jückstock, die sich mit ihrer Familie eine Zukunft in den USA vorstellen kann und jetzt auf die Greencard wartet, hat das schon beim ersten Besuch in der alten Heimat gemerkt: Sie sei durch die verschiedenen Stationen ihres Lebens gereist, sagt sie, und nirgends mehr habe sie so richtig dazu gehört. „Ich habe mich eben weiterentwickelt“, stellt sie fest.

Wer einige Jahre ins Ausland geht, muss auf alle Fälle mit einem Kulturschock rechnen. Spätestens bei der Rückkehr nach Deutschland.

2006-03-31 by Cornelia Schaible, Wirtschaftswetter
Text: © Cornelia Schaible

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